Sonntag, 3. Mai 2015

Große Reise-Reportage: Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug nach Moskau?

 Der Sonderzug nach Moskau

Auf Lenins Spuren ins Land von Putin/Historischer Ausflug in das Herz des Totalitarismus/Mütterchen Russland, wir kommen! Von Kommunisten und anderen Pilgern!

Eine romantische Zugfahrt von Berlin nach Moskau. Und eine Reisebeschreibung, die laut Autor angeblich auch noch lustig sein soll. Zudem eine Gemeinmachung, ja eine Mobilmachung in Nostalgie, bei der die ideologischen Pferde selbst mit dem Objektivsten durchgehen. Achtung: Reich bebildert und schön geschrieben.

Von Siegfried Richter

Abfahrt in Lenins Zug: Wir lernen Sahra und Rosa kennen, vermissen Oskar und der Kaiser hat sich wieder einmal zu früh gefreut

Abfahrt nach Moskau: Alles einsteigen,
den die Nostalgie quält!
(Foto: Richter/KA) 
Berlin/Moskau. Berliner Hauptbahnhof um Punkt 9 Uhr. Gleis 9. Die Frisur von Sahra Wagenknecht sitzt. Von Rosa aus Luxemburg auch, die ihrer Reinkarnation als historisches Ebenbild vorsaß. Nur die schlankere Figur, die feineren Gesichtszüge und die höflicheren Umgangsformen setzen Sahra in optischen Nuancen von ihrem Vorbild ab. Aber das sind zu vernachlässigende Details der Geschichte, die zu vernachlässigen sind.  Man gönnt sich ja sonst nichts. Damit sind schon zwei Protagonisten  der zahlreichen Hauptakteure dieser historisch zu nennenden Zugfahrt in die russische Hauptstadt, in das ewige Moskau, genannt. Zu dieser illustren Reisegesellschaft haben sich verschiedene Persönlichkeiten aus allen Teilen der Republik und aus allen möglichen ideologischen Ecken  zusammengefunden, die in ihren nach Gesinnung und Reisemotivation aufgeteilten Abteilen längst Platz genommen haben. Aber ein Ziel und eine Richtung eint sie. "Moskau, Moskau, schmeißt die Gläser an die Wand, Russland ist ein schönes Land", dröhnt es aus den hinteren Abteilen. Schon vor der Abfahrt geht das erste Porzellan zu Bruch. Das kann ja heiter werden. Da der Zug Wodka in rauen Mengen und bis zum Erbrechen geladen hat, wundert einen die Abwesenheit von Sahras Partner Oskar die Lafontaine schon. Wo der doch immer so scharf auf Alkohol war. Aber wer weiß, wo der sich gerade wieder herumtreibt. Früher war der bei den Sozialdemokraten. "Da ist er schlechten Umgang gewöhnt", murmelt ein Salonkommunist, der es sich in einer stillen Ecke bequem gemacht hat. Oder ist das etwa doch Oskarchen? Aber schon heißt es "Achtung an Bahngleis 9. Der Zug nach Moskau ist fertig zur Abfahrt". Interessant, wer da so alles auf diesen Sonderzug nach Moskau aufspringt, aber davon später mehr. Hui, da geht es auch schon los. Immer nach Osten, da wo Milch und Honig fließen und die Hoffnung aller im Westen zu kurz Gekommenen so herrlich blüht wie roter Mohn.



Das Riesenreich vor Augen.
Da wollen sie hin! (Foto: Dimitri
Averin, CC BY-SA 3.0)
Es sei erwähnt, dass dieser Sonderzug nach Moskau, obwohl von Udo Lindenberg aufgrund eines dringenden Termins in Berlin-Pankow nicht besungen, auf den schönen Namen "Lenin" hört. Ist es doch der gleiche Zug, in den jener Heilsbringer des Kommunismus und Bolschewismus während des Ersten Weltkrieges und von Zürich kommend, von einflussreichen politischen Kräften im wilhelminischen Deutschen Reich gesetzt wurde, um als "Unruhestifter" die Ordnung im von der zaristischen Knute beherrschten Russland und damit im Lande des Kriegsgegners ins Wanken zu bringen, Dass dies gelang und mit der "Großen Oktoberrevolution" seine weltpolitische Bedeutung nicht verfehlte, mag auch preußisch-deutscher Gründlichkeit geschuldet gewesen sein. Erst einmal machen, dann sehen wir schon. Kaiser Wilhelm soll damals über seinen Coup sehr amüsiert gewesen sein. Später hat er dann nicht mehr gelacht.

Das erste Abteil als Geschichtsbetrachtung: Der letzte Rest vom Fest oder das Beste kommt noch/Und diesmal lieber nicht über Kiew  
 
Rosa Luxemburg bei einer Rede. Oder
ist sie das gar nicht? (Foto: Fraktion
Die Linke im Bundestag, Lizenz:
CC BY-SA 2.0
Im ersten Abteil des Zuges, mit roter Fahne und revolutionären Parolen stilecht geschmückt, residiert die proletarische Elite oder das, was davon heute noch übriggeblieben ist. Mit Wolf Biermann könnte man die gemütliche Runde als den "letzten Rest" bezeichnen. Aber im Gegensatz zu dem notorisch renitenten Liedermacher wollen wir die Gefühle der Anwesenden nicht verletzen, sonst wären ihre Gefühle noch verletzt. Und das wollen wir jenen so sensiblen Gemütern mit den hochtrabenden Gedanken nicht antun. Daher lassen wir es. Hier im ersten Wagen gibt sich das Who is Who der postkommunistisch-totalitären Avantgarde ein Stelldichein. Wagenknecht also mit ihrem roten Schatten und ohne Oskar. Jenem Schatten, dem man trotz seiner ach so toleranten Haltung gegenüber Andersdenkenden kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin genauso übel mitgespielt hat wie seinem Genossen Karl Liebknecht, Mit der Toleranz ist das nämlich so eine tückische Sache, wenn man den Sozialismus lieber hat als ein bürgerliches System. Also da ruft einer schon einmal die sozialistische Republik auf deutschem Boden aus und dann ist es der Reaktion auch nicht recht. Undankbarkeit aber erscheint auch bei diesem historischen Gerangel um die Macht in der neuen Republik von Weimar der Welten Lohn gewesen zu sein. Wir hatte doch so viel vor, wenn man uns nur gelassen hätte. So raunt es durch den jungen Morgen. Na ja, später haben sich dann die radikalen Kräfte links und rechts und ganz rechts dann doch noch zusammengefunden und die "Republik ohne Republikaner" dahin befördert, wo sie nach Meinung aller Feinde eines bürgerlich-demokratischen Rechtsstaates und seiner Verfassung auch gehörte: Auf den Scheiterhaufen der Geschichte mit dem unbeliebten Objekt totalitärer Begierde. Und dann haben die scheinbar so unvereinbaren Antagonismen ja im 20. Jahrhundert noch genügend Zeit gehabt, sich aneinander und manchmal sogar miteinander (Hitler-Stalin-Pakt) auszutoben und überhaupt auszutoben. Da konnte es natürlich nicht ausbleiben, dass die lieben Kommunisten im Gegensatz zu den "sozialdemokratischen Verrätern der Einheit der Arbeiterklasse" schon einmal mehr die junge Republik bekämpften als sich um die nationalsozialistischen Anwandlungen zu kümmern. Aber man kann, die Revolution vor Augen, nicht an alles denken. Soviel zum leicht verunglückten Start einer befreienden und universellen Idee, die dann doch eher von lästigen Errungenschaften bürgerlicher und sozialdemokratischer Kleinbürger und Reformisten befreite, die im Gegensatz zu Russland in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest im Osten fröhliche Urstände und einen freudentränenreichen Abschied von überkommenen bourgeoisen Prinzipien feierte.  Träume sind aber Schäume. Und immer kommt etwas davor und danach dazwischen in Deutschland, bevor es richtig losgehen kann. Aber wer kann schon etwas dafür, wenn er dagegen war? Das führt uns zu Russland. Dort war der Weg für Lenin und die Bolschewiki frei. Dass der mithalf, den Krieg zu beenden, sei immerhin als Randnotiz erwähnt. Nun aber galt es, den großen Steinbruch namens Russland bzw. die neuherrliche Sowjetunion mit Menschen zu füllen und das Vaterland aller Kommunisten und mithin der Menschheit zu begründen. Ein totalitäres Experimentierfeld, das nur von den totalen Kriegern noch übertroffen wurde. Leichen pflastern seinen Weg, wenn er, der Kommunismus, aus Menschenmassen Tote macht. Was kostet die Welt? "Genau so viel", dröhnt es aus dem Gulag. Und was Lenin begonnen hatte, führte also Väterchen Stalin, lange von den Kommunisten aller Welt bejubelt und gedankenschwer von einem deutschen Dichter wie Johannes R. Becher als gottgleiches Vorbild in Buchstaben gehauen, zu neuen Höhen und zu Ende. Das Vermächtnis lebt: Terrorisierung der Bevölkerung (der dank Herbert Wehner und anderen fleißigen Helfern selbst Genossen nicht entgingen), Zwangskollektivierung der Bauernschaft, Schauprozesse, nicht dagewesene Willkürherrschaft. In Sibiriens Lagern wurde es eng. Die elendige Angst der einst so euphorischen Massen nur noch von den nicht enden wollenden Blutströmen übertroffen, die dem "Arbeiter- und Bauernparadies" später irdische Weihen entzogen. Ein Steinbruch eben aus Menschenmaterial. Was so aus einer Idee werden kann, wenn einer (Lenin) eine Reise in einem Zug tut. Wie heißt es so schön: Eine Reise, die ist lustig, eine Reise die ist schön ...

Der Zug der Geschichte fährt in jedem
Fall über das ehemalige Chemnitz
(Foto: Richter/KA)
Und den (den Zug der Geschichte) der liebe Karl aus Marx ein Jahrhundert früher so verheißungsvoll ins kapitalistische Werk gesetzt und aufs Gleis gestellt hatte. Ein Manifest der Brüderlichkeit. An die Schwestern wurde damals noch nicht gedacht. Und wer nicht brüderlich sein wollte, dem haben halt die Weltgeschichte und der historische Materialismus ein wenig auf die Sprünge geholfen. Manche sind stur und müssen zu ihrem Glück gezwungen werden. Denn zu viel Humanismus und Pluralismus ist dann doch nicht gut für jene, die nicht die Partei für sich denken lassen wollen und sich den Segnungen des Kollektivismus so dreist entziehen. Eine Nötigung, die als Zweck die Mittel heiligt. Selbstverständlich hat Marx bei seinem Urschrei, den er in die Umlaufbahn setzte, nicht an die Exzesse jener gedacht, die sich später als seine Nachfolger und Erfüller auf ihn beriefen. Aber unschuldig war der mehrfache Familienvater nicht so wirklich, oder? Ein bisschen Brandstiftung mochte schon sein für den Traum von den Idealen der Französischen Revolution in neuem Gewande, der dann doch eher gleicher als freier sein sollte und wollte. Ein Traum so göttlich, dass er alles durfte und an die Stelle Gottes trat. Der Mensch und sein Tanz ums goldene Kalb als moderner Kampf um Mammon. Mindestens so materialistisch wie der Materialismus jener bösen Erzkapitalisten, denen er zu entreißen war. Der Rest ist Opium fürs Volk. Dass das mit der "Diktatur des Proletariats" und der "klassenlosen Gesellschaft" nicht so funktioniert hat, lag natürlich nur an der unzulänglichen Umsetzung. So oder ähnlich trompetet es aus dem Heute, die Ideologie retten wollend. Aber links bleiben wir aus Überzeugung. Und welche Alternative gäbe es für unser Monopol auf das Linkssein? Und wir haben es ja alle immer nur gut gemeint. Seit Marx. Und er hat das ja nicht böse gemeint. Ideologen meinen es ja nie böse. Und was andere Genossen dann daraus machen, ist natürlich ohnehin eine eigene Geschichte, nicht wahr?
 
Sahra Wagenknecht bei einer Rede.
Oder ist sie das gar nicht? (Foto:
Fraktion Die Linke im Bundestag,
Lizenz: CC BY-SA 2.0)
Aber wie kamen wir darauf. Doch nicht so grundsätzlich bitte, die Fahrt soll doch Spaß machen. Ach ja, das erste Abteil.  Also neben Wagenknecht, einer Jungfrau von Orleans gleich als Hoffnungsträgerin, der ganze Haufen Rest. Also doch der Rest.  Die Linkspartei schließt wieder die Reihen. Und sei es nur auf einem Betriebsausflug ins schöne Moskau. Da sieht man alte Hardliner, selbst Egon der Begrenzte ist wieder mit dabei. Die beiden Erichs, Honecker und Mielke, hat man nicht in den Zug gelassen. Soviel Abstand zu den falschen Umsetzern muss dann doch sein. Aber wer weiß, ob die überhaupt Zeit gehabt hätten? Und dann so eine anstrengende Fahrt für zwei Kreise wie ihr? Aber sonst ist Versöhnung mit der eigenen Geschichte und ihren Altvorderen angesagt. Denn irgendwann muss ja auch bei Kommunisten mal gut sein mit Konformismus und Reformismus in dieser ungeliebten neuen Republik. Keiner hat sie gewollt, diese böse Freiheit von Amerikas Gnaden. Militarismus und Ausbeuterei in neuem Gewand in EU und Nato. Wer spricht da von "humanitären Einsätzen" und "Sozialstaat"? Für uns Materialisten alles Schimäre. "Alles Lüge", plärrt Rio Reiser von hinten aus dem Off. Alte Wahrheiten neu erfunden. Oder wer lügt sich da als Mogelpackung durch die Geschichte? Also wer fährt nicht alles mit. Der begnadete Entertainer Gregor Gysi, der auch 1989 noch die Mauer als "Antifaschistischen Schutzwall" verteidigt hat und sich als windiger Wender heute darin ergeht, anderen die Welt zu erklären. Auch eine Karriere. Aber wir sind doch alle für das Grundgesetz und haben uns im neuen Staat ganz nett eingerichtet, oder?. Das Einsperren, die Unterdrückung und Entmündigung von Millionen muss man da natürlich aus historischer Perspektive begreifen, da kann man nicht so einfach die Menschen- und Individualrechte zum Maßstab machen. Schließlich war all das die Folge des Hitlerschen Faschismus, der im Osten von Deutschland ja dann nach 1945 wieso schnell verschwunden war. Die Braunen waren jetzt alle im Westen. Und weil es den Faschismus gegeben hatte, konnte man natürlich nicht umhin, als einzig mögliche Antwort darauf die nächste Diktatur, wenn auch eine andere, zu installieren. Schließlich galt es, die Deutsche Demokratische Republik vorm westlichen Faschismus zu retten. Oder war das doch irgendwie anders? Haben wir das eigene Volk vor der westlichen Freiheit und Demokratie retten bzw. uns und unsere Genossen und ihr System retten müssen? Und wer war näher dran am Faschismus als Totalitarismus? Aber egal. Der Zweck heiligt eben alle Mittel, selbst ätzende Reinigungsmittel, die die Geschichte reinwaschen. Oder sollen wir von der Geschichte reingewaschen werden? Wie auch immer. Genug bereut, gebüßt, gejammert.

Immer noch ein großes Reich: Russland.
Und die Ukraine gehört dazu?
(Foto: F. Avazovsky/PD) 
Jetzt freie Kraft voraus Richtung Moskau. Mit altem Kader und jungem Volk. Denn "Jung sind die Linden und jung ist Berlin..." Und draußen. Ist das schon die Ukraine? Oder sind wir noch in Polen oder dem Baltikum? Wie verläuft eigentlich die Strecke? Wo dürfen wir als verfolgte Erben des russisch-sowjetischen Totalitarismus noch durch? "Alles Faschisten hier, alles Faschisten", ruft einer. Später heißt es dann, man hätte Kiew weiträumig umfahren. Dort wäre es demnach zu gefährlich für unseren lieben Tross gewesen. "Aus unerfindlichen Gründen haben die was gegen Russland und uns", ruft wieder einer. Da war doch was? War da was? Also vorbei an dem Faschistennest Kiew. Dort, wo man der bösen Nato und der EU hinterherläuft. Dort wo man Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dem netten russischen Vorbild doch tatsächlich vorzieht. Was sind das für Völker, die aus ihrer Geschichte nichts gelernt haben und Menschenrechte für wichtiger halten als die Solidarität mit ihren ehemaligen Unterdrückern in Moskau, sei es als Zaren oder rote Zaren? Undankbares Pack. Und wen interessieren all die jungen Leute, die auf dem Maidan sich Woche- und nächtelang den Hintern abgefroren haben und am Ende ihr Leben riskiert und Tote zu beklagen hatten. Nur weil die heroisch für westlich-humanistische Werte und gegen die liebe russische Marionette namens Janukowitsch einstanden, sind sie doch keine Helden. Pack das. Alles Faschisten. Von der Sowjetunion bzw. Russland lernen, heißt lügen lernen. Jeder, der Russland kritisiert, ist ein Faschist. Die Gehirnwäsche des russischen Staatsfernsehens funktioniert auch bei uns schon ganz gut. Die bauen demnach in der Ukraine KZ's, um alle Russen im Osten des Landes zu vergasen. Prawda. Die Lüge siegt. Das wir dabei gerade damit die unermesslichen Opfer Nazi-Deutschlands in der Sowjetunion mit dieser Instrumentalisierung des Begriffs "Faschismus" beleidigen und die Geschichte in Geißelhaft für unsere antiwestlich-totalitären Tagträume nehmen, ist uns egal. Den meisten Russen auch. Bis auf diese komischen Narren der Opposition, denen gleichgeschaltete Medien und ihre Verfolgung und die katastrophale Menschenrechtspolitik Putins im Inneren wie Äußeren auch noch widerständige Haltungen abnötigen. Aber wie gesagt, Hauptsache es geht gegen den Westen. Also Richtung Osten.  Gleich über Peking nach Moskau. Wer ankommen will, muss manchmal ungewöhnliche Wege gehen. Das weiß man doch. Und wer wüsste das besser als wir Kommunisten?

Das zweite Abteil: Korrespondente Russlandversteher/Die alten Strategen schlafen schon 
 
Einer der führenden Russlandversteher
in Deutschland: Egon Bahr
(Foto: Holger Noß, CC BY-SA 2.5
Im zweiten Waggon, dies sei der Vollständigkeit halber erwähnt, die linksmoderaten und manchmal gar nicht so linken Russlandversteher. Gabriele Krone-Schmalz führt den Treck jener ehemaligen Moskau-Korrespondenten an, die in der späten Sowjetunion journalistisch und politisch sozialisiert wurden. Keine Kommunisten, aber ihre Liebe zu Russland und den Russen geht über alles. Da geht es weniger um die große russische Kultur. Denn wenn das Tolstoi oder Puschkin wüssten, was da heute in Russland so ... Aber genug davon. Nein, politisch treu im Dienste Russlands. Selbst dann, oh Schreck, wenn ihr geliebtes sowjetisches Koordinatensystem abhanden gekommen ist und die bösen Amis zusammen mit den dreisten mittel- und osteuropäischen Nachbarn des Riesenreiches jetzt nach Jahrhunderten liebevoller russisch-sowjetischer Unterdrückung auf Völkerrecht und Eigenständigkeit pochen und allen Ernstes nach Europa und in den Westen wollen. Wie antiquiert. Dann sogar auch noch in die Nato. Wo doch gerade die Nato eine ernsthafte Bedrohung für jedwede Diktatur und jedwedes militaristisches, nationalistisches und mithin imperialistisches Regime ist. Hoppla, jetzt sind uns aber Worte herausgerutscht. Also Sorry, lieber Putin. Aber wir sind halt dann doch mehr gegen den Westen als für dich. Aber das muss man ja nicht laut sagen. Genauso wenig wie die Herrschaften von der Linksfraktion sagen, dass dein Oligarchensystem mit ihrem Traum vom Sozialismus so viel zu tun hat wie Josef Stalin mit Abraham Lincoln.  Aber es ist unser Regime. Nein, unser Russland. Loyalitäten hat man, man sucht sie sich nicht aus. In diesem Abteil, den Phantomschmerz und die Verlustängste Russlands teilend und mitleidend, sitzen Leute wie Egon Bahr oder Helmut Schmidt. Peter Scholl-Latour ist ja tot, sonst wäre er auch dabei. Allesamt  große Berufsstrategen im Ruhestand jener Genies,  denen zynische Geopolitik schon immer lieber war als der menschenrechtspolitisch geleitete Idealismus der Amerikaner. Auch wenn sie genau das den Amerikanern vorwerfen. Also beides wohlgemerkt. Zynische Geopolitik und einen Idealismus, den sie als arroganten Missionarismus verstehen wollen. Aber Konsistenz war nie ihre Sache. Und ein echtes Verständnis von der Universalität der Menschenrechte und von der amerikanischen politischen Philosophie auch nicht. Obwohl die Bahrs und Schmidts, von Göttern gerufen, ihren Werterelativismus natürlich Friedensliebe und Diplomatie nennen. Aber jetzt haben sie die Vorhänge zugezogen und machen aus Lenins Zug, mit dem sie ansonsten eher wenig verbindet, einen Schlafwagen. Die Schlafwandler der Geschichte. Und für einen Ritt durch die Talkshows reicht es zu Hause für diese Appeaser, die in ihren geostrategischen (Schmidt) oder pseudopazifistischen Spielchen (Bahr) aus der Zeit des Kalten Krieges steckengeblieben sind,  dann immer noch. Mit tosendem Applaus bedacht, versteht sich. Und der Matthias Platzeck ist auch dabei, dieser Lobbyist. Wenn man Interessen hat, kann man die Werte schon einmal aus den Augen verlieren. Muss ja auch nicht sein. Beim Trommeln für Russland kann es schon einmal passieren, dass der ehemalige Ministerpräsident Brandenburgs vergessen hat, mit wem sein Land eine Grenze hat. Aber wen interessieren diese dreisten Polen. Wie gehabt: Alles Osteuropa. Und Osteuropa ist Russland. So ist die Geschichte.

Das dritte Abteil: Von Linksradikalen und Autonomen
 
Verblasst, tut es aber immer noch trotz
alledem: Der rote Stern
  (Foto: Richter/KA)
Im dritten Abteil Linksradikale und Autonome. Zwar anarchistisch angehaucht und jeder Autorität gegenüber skeptisch. Aber Konsistenz ist auch nicht ihre Stärke. Dann fahren die halt auch mal mit in Putins Reich. Besser sein Bullenstaat als der verhasste Bullen- und Schweinestaat im Westen, der sich Bundesrepublik schimpft. Die Kommunisten im ersten Wagon wissen ja auch, dass das ultraorthodoxe Oligarchensystem Putins nichts mit Kommunismus zu tun hat, was ihrer begeisterten Parteinahme aber keinen Abbruch tut. Hauptsache gegen den Westen. Und im zweiten Abteil wird die illiberale Gleichschaltung der Medien, die Verfolgung der Opposition und von Homosexuellen und all das auch nicht so eng gesehen, Russland verstehen heißt eben, Russland zu lieben und zu verzeihen. Und alle pfeifen auf die Freiheitsrechte der Ukrainer oder Georgier. Und den Polen oder Balten hätte man sie gar nicht geben dürfen. Wäre ja noch schöner, wenn diese verspäteten Nationen jetzt im 21. Jahrhundert mitten in Europa ihre eigenen Angelegenheiten in die Hände nähmen. Außerdem kennen wir deren Geschichte alle wieso nicht richtig. Muss man ja auch nicht. Schließlich ist Osteuropa mir Russland identisch. Und wer das bestreitet und womöglich auch noch zwischen Mittelost- und Osteuropa unterscheidet und diese kleinen Völker ernst nimmt, also den kann man doch nicht für voll nehmen. Wo sind wir denn? Russland hat sich immer alles genommen, was es wollte. So ist es groß geworden. Und jetzt wollen die im Westen den Russen ihr Spielzeug wegnehmen. Und dann sehen die die Nato auch noch als ihre Lebensversicherung. Absurd. Wer hat Angst vor Russland? Also wir nicht. Schlesien bleibt unser. Äh, Moment. Das war das falsche Beispiel, aber es ist klar, was wir meinen.

Das vierte Abteil: Recht(s) leer
 
Musste draußen bleiben
und kam wieder nicht bis
Moskau: Unbekannter
Rechter (Foto: PD)
Das vierte Abteil ist leer geblieben. Eigentlich wollten rechtsradikale und neonazistische und andere Leute von der anderen Seite mitfahren. Aber es gab dann kurz vor der Abfahrt unüberbrückbare ideologische Differenzen mit den linken Russlandverstehern und Sympathisanten. Sie also, die ihre Liebe zu Russland plötzlich auch noch entdeckt haben, nachdem ihre Vorväter im Zweiten Weltkrieg das Land kurz und klein gemacht und die "slawischen Untermenschen" millionenfach ausgerottet hatten, müssen draußen bleiben. Wie geprügelte Hunde. Gemeinsame Feindbilder im Westen genügten also doch nicht, um das begehrte Ticket gen Osten zu lösen. Eigentlich schade drum, oder? Wo Russland auch in diesen Kreisen jetzt als schick gilt. Wenn es gegen die angloamerikanischen Imperialisten, die jüdische Weltverschwörung und gegen  das "Besatzungssystem" und also gegen "das System" im Westen geht, lässt man sich selbst mit Russen ein, gell. Obwohl die Braunen und Halbbraunen und Viertelbraunen, die sich jetzt auch in den Zug nach Moskau setzen wollten, von slawischer und russischer Kultur und Seele und Geschichte soviel Ahnung haben wie vom Humanismus. Den verstehen sie nämlich auch nicht. Aber man muss ja nicht alles verstehen. Es reicht ja, wenn man Russland versteht. Es ist ja kein anderer Zug da, der uns in Europa unserem Traum der Renationalisierung näher bringt. Weg von Liberalismus, Rechten für Homosexuelle und Frauen. Und dieser ganze andere Quatsch von Europa und seiner Einigung. Also mangels Alternative immerhin das autoritäre Russland. Ein Pakt mit dem Teufel, aber immerhin ein Pakt. So wie der Hitler-Stalin-Pakt, den Putin jüngst so gelobt hat. Temporäre Sache das, aber geht für ein Weilchen. Putin unterstützt ja auch die rechtsradikalen Kräfte in Europa. Entsteht da eine weitere fünfte Kolonne im Herzen des Feindes, so wie die Russen in der Ostukraine? "Also schade jedenfalls, dass wir nicht mitfahren durften", seufzte einer, der am Bahnsteig in Berlin zurückbleiben musste. Der steht jetzt verloren mit seinem Haufen an den Gleisen herum. Wie hieß der noch gleich? "Gustav Adolf", flüstert das vergangene Jahrhundert. Aber die gesamte Besatzung dieses Sonderzuges hat das Flüstern des vergangenen Jahrhunderts ebenso überhört wie die Zurückgebliebenen. Eigentlich sind es ja alle Zurückgebliebene, die das Flüstern des Jahrhunderts, das Flüstern des Totalitarismus nicht gehört haben. Sonst hätten sie ja diesen Zug in die Vergangenheit nicht bestiegen oder besteigen wollen.

Ankunft in Moskau
 
Am Ziel wartet Wladimir.
"Warum liebt der Wladimir
jrade mir, jrade mir", sang
schon Claire Waldorf
(Foto: www.ru.com)  
Als der Zug nach zwei Tagen Fahrt in Moskau einfährt, sind alle stockbesoffen und glücklich. Es wurde gelacht und geweint, erzählt und geschwiegen. Über den Lauf der Dinge, über verwelkte Utopien und neue Illusionen. Auch Sahras Haare sitzen nicht mehr ganz so genau, aber die Haltung bewahren geht immer. "Sind wir schon da", fragt ein bekiffter Autonomer mit zugekniffenen Augen. Ob dessen punkähnliche Frisur im neuen Russland ankommen wird? Nach Ordnung und Moral sieht das nicht aus. "Alles aussteigen, Endstation Moskau", säuselt es einschmeichelnd am Bahnsteig. Auch ohne großen Bahnhof taumeln die Passagiere freudetrunken aus dem Zug. Lenin und Marx hinter sich, Putins neu-altes Russland vor sich. Nicht immer links, aber immer autoritär. Putin selbst, der ehemalige KGB-Scherge und über den Zerfall der Sowjetunion Heulende, konnte als Empfangskomitee nicht erscheinen. Hat zu tun. Ukraine und so. Wer mitkommen durfte, eilt jetzt erst einmal ins Hotel und dann gleich zum Kreml. Mal sehen, was Russlands Putin oder Putins Russland so zu bieten hat. Vielleicht sieht man den Helden, der den bösen Amis seine flache Stirn bietet, doch einmal kurz. Hoffnungsvoll zieht der lange Tross aus Deutschland über den Roten Platz. Im Osten geht die Sonne auf. Dem Morgenrot entgegen. Und alle marschieren mit. Aus unterschiedlichen Richtungen, aber das gleiche Ziel vor Augen. "Denn Du hast ja ein Ziel vor den Augen." Wie gehabt. Und trotz alledem.             

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