Sonntag, 27. April 2014

Berliner Türken enttäuscht: Eingemeindung von Neukölln und Wedding nach Istanbul verschoben

Bericht von Wilhelm Busch

Berlins Regierender
Wowereit (Foto: Olga
Bandelowa, Lizenz:
Creative Commons
 By-SA 2.0 DE)
Berlin. Die geplante Eingemeindung der Berliner Bezirke bzw. Stadtteile Neukölln und Wedding in die Verwaltungsstruktur der türkischen Metropole am Bosporus wird vorerst nicht realisiert und auf  unbestimmte Zeit verschoben. Darauf einigten sich gestern in einer turbulenten Nachtsitzung der Senat und die Istanbuler Stadtregierung. In den mehrheitlich von Türken dichtbesiedelten Straßenzügen der deutschen Hauptstadt machten sich unmittelbar nach Bekanntwerden der Nachricht Enttäuschung und blankes Entsetzen breit, die später in Wut und vereinzelt auch in Gewalt umschlugen. Schon werden erste Rassismus-Vorwürfe laut. Scheinbar hat der gnadenlose Populismus der deutschen Politik mittlerweile sogar den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit erfasst, der mit Verweis auf die eigene Bevölkerung die weit gediehene Entscheidungsfindung platzen ließ.




Bereits seit drei Jahren werden die Verhandlungen mit Nachdruck geführt. Ziel ist, wie es in einem unserer Zeitung vorliegenden geheimen Strategiepapier heißt, eine "reibungslose und friedliche Eingliederung der mehrheitlich von Türken bzw. Muslimen bewohnten Stadtviertel Berlins in das Istanbuler Gebiet, um den einwanderungspolitischen und demografischen Realitäten Rechnung zu tragen". Während sich die deutsche Seite eine Entlastung des vergleichsweise hohen Sozialetats für die betroffenen Teile der Stadt erhofft, möchte der Istanbuler Bürgermeister Ahmed Mustafa  die Homogenität der Bevölkerungszusammensetzung erhöhen. Dem standen bis zuletzt verwaltungs- und verfassungsrechtliche Bedenken entgegen. Im Kern ging es um die Frage, ob und inwieweit Teile einer Stadt in eine andere ausgegliedert werden können, ohne den territorialen Rahmen der Staatlichkeit zu sprengen. Deutsche Verwaltungsexperten und Verfassungsrechtler halten das Vorhaben für nicht durchführbar, hingegen argumentieren ihre türkischen Kollegen mit einer sogenannten "Realitätsklausel". Dieses Konstrukt geht davon aus, dass die soziale und kulturelle Wirklichkeit in einem Stadtbereich unter veränderten Bedingungen einer strukturell-technischen Anpassung bedürfe.
 
Innensenator Henkel
(Foto: Oliver Wolters,
Lizenz: Creative Commons
BY-SA 3.0 DE)
In den letzten Wochen waren die von einer Expertenkommission ausgearbeiteten Vorschläge zur praktischen Umsetzung des kühnen Planes, der in dieser Form weltweit einzigartig sein dürfte, neben den rechtlichen Schwierigkeiten auch auf politische Vorbehalte gestoßen. Im rot-schwarzen Senat Berlins waren die Vorbehalte unterschiedlicher Art. Während die Sozialdemokraten den Verlust der muslimischen Parallelgesellschaften als Teil ihres multikulturellen Verständnisses von Stadtpolitik befürchteten, fragte die CDU nach den Folgen einer solchen Entscheidung für die in den besagten Vierteln verbliebene nicht-muslimische Restbevölkerung. Scheinbar müssen unverbesserliche Konservative unter den Christdemokraten mit Innensenator und Parteichef Frank Henkel an der Spitze in den letzten Tagen den Druck auf den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) massiv erhöht haben, die Angelegenheit auf Eis zu legen. Angeblich drohte Henkel sogar mit einem Bruch der Koalition. Die Weigerung der CDU, die konsequente Weiterführung der stets geleugneten Einwanderungsgesellschaft zu betreiben, mag mit altmodischer Besitzstandswahrung ebenso erklärt werden wie mit sturem Festhalten an anachronistisch anmutenden kulturellen Traditionen. "Neukölln und der Wedding waren immer ein Teil Deutschlands und gehören zu Berlin", ließ sich Henkel zu einer nahezu ungeheuerlichen These hinreißen. Unter dem Jubel konservativer und islamkritischer Kreise begründete er seine Haltung im Rahmen einer öffentlichen Rede mit dem Verweis auf humanistisch-abendländische Werte. Unter dem Einfluss des Neuköllner Bürgermeisters Heinz Buschkowsky, der nicht zum ersten Mal "kritische Tendenzen" im muslimisch geprägten Teil seines Bezirkes ausgemacht haben wollte, hat diese Sichtweise augenscheinlich Teile der Berliner Sozialdemokratie erreicht. Auf der Pressekonferenz zur Bekanntgabe der Entscheidung äußerte sich Wowereit dahingehend, dass die deutschen und nicht-muslimischen Einwohner noch nicht soweit seien, einen solchen Schritt zu akzeptieren. "Populismus, soweit das Auge reicht", werteten Jusos, linke Sozialdemokraten und Grüne diese Entwicklung. Es könne nicht sein, dass die "Eingeborenen" darüber zu befinden hätten, wohin die Reise einwanderungs- und städtepolitisch gehe.
 
Aufgebrachte türkische Jugendliche zogen noch in der Nacht über den Neuköllner Hermannplatz und den Leopoldplatz im Wedding, um gegen den Entschluss zu demonstrieren. "Türkische Viertel zur Türkei", skandierten sie und warfen der deutschen Seite Rassismus vor. "Da wurde eine große Chance verpasst, der mittlerweile beschlossenen doppelten Staatsbürgerschaft für die jüngere Generation von Migranten nun weitere Taten folgen zu lassen", ließ sich ein Vertreter der türkischen Gemeinde ins Vernehmen setzen. Danach wäre es dann möglich gewesen, zugleich deutscher und türkischer Staatsbürger zu sein und sich ganz offiziell Bewohner Istanbuls zu nennen, ohne die Bundesrepublik verlassen zu müssen. Dies wäre auch in Einklang mit Aussagen des integrationspolitisch sehr engagierten türkischen Ministerpräsidenten Erdogan zu bringen, der in letzter Zeit seine demokratisch-humanistische Großoffensive durch die Disziplinierung der Opposition und das Abschalten verderblicher Sozialer Dienste in seinem eigenen Land zielstrebig vorangetrieben hat. "Es geht nicht darum, die Türkei näher an Europa zu rücken, sondern eine Stadt wie Berlin noch fester an die Türkei zu binden", fasst der tolerante ehemalige Bürgermeister von Istanbul sein Credo zusammen.

So war es einmal und so könnte
es wieder sein: Deutsche Frauen
mit Kopftuch (Foto: Richard Peter/
Deutsche Fotothek, Lizenz:
Creative Commons
 BY-SA 3.0 DE)
Obwohl die Verschiebung der Eingliederung für die Integration der deutschen Einwohner in die türkischen Milieus ein herber Rückschlag genannt werden muss, können die noch vorhandenen Widerstände nicht vollständig dem bloßen Unwillen und der Voreingenommenheit westlicher Politiker und ihrer Wählerschaft zugeschrieben werden. Namhafte Experten und Wissenschaftler des migrationspolitischen Komplexes weisen nicht zu Unrecht darauf hin, dass die Voraussetzungen für eine solch einschneidende Maßnahme wie die Integration ganzer Stadtviertel in einen anderen Kulturkreis grundsätzliche Weichenstellungen verlange. So sprechen nahezu alle migrationspolitischen Sprecher der linken Parteien wie auch Soziologen davon, dass etwa in Neukölln und im Wedding das Festhalten der nicht-muslimischen Bürger an überkommenen Traditionen eine raschere Homogenisierung von Verhaltensweisen und Werten verhindere. "Töchtern wird die Partnerwahl überlassen, Frauen laufen am hellichten Tag ohne Kopftuch durch die Gegend, Männer verzichten freiwillig auf ihre Ehre, Homosexuelle treiben ungehindert ihr Unwesen", zählt der bekannte Migrationsforscher Dieter Haltlos nur die "Spitze des Eisberges" auf. Er bittet gleichzeitig um Verständnis dafür, da die einst heimische Bevölkerung aus Gewohnheit noch zu sehr den westlichen Ansprüchen von Zivilisation und Kultur anhänge. "Es sind noch nicht alle soweit", fügt er hinzu. Sein türkischer Kollege Mohammed Mohammed bestätigt dies, streicht aber neben der beklagenswerten Resistenz auch die Fortschritte heraus: "Immer mehr deutsche Frauen haben muslimische Männer und übernehmen die religiösen Wertmaßstäbe, tragen Kopftücher und lassen sich die Vorzüge eines Weltbildes erklären, das auch ohne westliche Luxuserrungenschaften wie Frauenrechte, Toleranz und persönliche Freiheit auskommt." Als besonders bedauerlich empfinden es viele, dass auch tolerante Türken und insbesondere Aleviten sich diesen Verlockungen einer offenen Gesellschaft scheinbar nur schwer entziehen können. Dem scheint auch die Politik zu entsprechen. Geduld also ist gefordert, dann klappt es auch mit der Integration.                                

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